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Es ist kurz vor Sonnenuntergang, als wir den weiten, weißen Platz des Chiang Kai-shek Memorials in Taipeh betreten. Die Hitze des Tages beginnt langsam zu weichen, die ersten langen Schatten zeichnen sich auf den glatt polierten Steinplatten ab. Ein Ort der Weite und des Innehaltens – und einer tiefen symbolischen Bedeutung für die Geschichte Taiwans.
Das markante blaue Ziegeldach des Memorialgebäudes erhebt sich vor uns wie ein stiller Wächter der Vergangenheit. Als die Sonne sich dem Horizont nähert, beginnen die Scheinwerfer das Monument sanft zu beleuchten. Die Farben der Goldenen Stunde tauchen das Gebäude zunächst in warmes Licht, ehe es in der Blauen Stunde fast mystisch zu leuchten scheint – ein Moment zwischen Tag und Nacht, zwischen Geschichte und Gegenwart.
Wir steigen die 89 Stufen hinauf – jede einzelne steht symbolisch für ein Jahr im Leben von Chiang Kai-shek, dem Mann, dem dieses eindrucksvolle Denkmal gewidmet ist. Oben angekommen, schweift unser Blick über den Liberty Square, flankiert von der Nationalen Konzerthalle und dem Nationaltheater. Die Stadt beginnt zu schweigen. Eine ehrfürchtige Ruhe legt sich über den Platz.
Das eigentliche Memorial erinnert nicht von ungefähr an das Lincoln Memorial in Washington D.C.: Eine monumentale Halle mit einer sitzenden Statue des ehemaligen Präsidenten – eine bewusst gewählte architektonische Parallele, die Chiang Kai-sheks Rolle als Führer und Symbolfigur betonen soll. Der Raum ist beeindruckend, fast ehrfurchtgebietend. An den Wänden Zitate, Devotionalien, Wachen.
Doch unsere Neugier führt uns weiter – wir entdecken Nebentüren, betreten kurz ein angrenzendes Raumensemble, als lautes Rufen durch die Halle schallt: Das Wachpersonal. Offenbar waren wir ein wenig zu spät dran. Schnell verlassen wir das Gebäude – gerade noch rechtzeitig, denn das riesige Haupttor beginnt sich hinter uns zu schließen. Ein paar Sekunden später, und wir hätten womöglich eine Nacht im Schatten von Chiang Kai-shek verbringen müssen.
Wer war Chiang Kai-shek?
Chiang Kai-shek (1887–1975) war General, Politiker und jahrzehntelang der zentrale Akteur im modernen chinesischen Nationalismus. Als Nachfolger von Sun Yat-sen übernahm er die Führung der Kuomintang (KMT) und kämpfte sowohl gegen kommunistische Kräfte als auch gegen die japanische Besetzung Chinas.
Nach dem Bürgerkrieg mit Mao Zedongs Kommunisten musste Chiang 1949 mit seinen Anhängern nach Taiwan fliehen, wo er die Republik China weiterführte – autoritär regiert, aber mit wirtschaftlichem Aufschwung. Bis zu seinem Tod 1975 war er Präsident der Republik China auf Taiwan und hinterließ ein kontroverses Erbe: Für die einen ein Bollwerk gegen den Kommunismus, für andere ein Autokrat mit harter Hand.
Das Memorial, 1980 eröffnet, ist Ausdruck dieses Erbes – es ehrt den Staatsgründer Taiwans, steht aber auch symbolisch für die schwierige Aufarbeitung seiner Herrschaft. Heute ist es nicht nur ein Ort der Erinnerung, sondern auch ein beliebter Treffpunkt für Einheimische und Reisende – und ein idealer Platz, um die goldene Schönheit des Abends in Taipeh zu erleben.